Das wahre
Leben des legendären Schatzinselpiraten
Robert Lewis
Stevenson verpasste dem Piraten Long John Silver in seinem Roman Die Schatzinsel (1881) einen verschlagenen, unberechenbaren
Charakter. Obwohl der eigentliche Held der Schatzinsel
der junge Jim Hawkins ist, war es Long John Silver, der die literarische
Nachwelt mehr als alle anderen Protagonisten des Romans beschäftigte. Eine
besonders spannende und gelungene Adaption der Figur des einbeinigen Piraten
ist die Autobiographie John Silvers vom schwedischen Schriftsteller Björn
Larsson.
Mit rund 57
Jahren ist John Silver recht alt für einen Piraten geworden. Nach dem
Schatzinselabenteuer hatte er sich mit ein paar Getreuen und seiner Frau – alles
ehemalige schwarze Sklaven – auf Madagaskar niedergelassen. Für die Welt war er
gestorben und nun fristete er ein ereignisloses Leben in Luxus. Grund genug
offensichtlich, sein Leben Revue passieren zu lassen und ein offenes,
schonungslos ehrliches persönliches Logbuch zu verfassen. Schon der Einstieg, die
Erinnerung an sein buchstäblich einschneidendes Erlebnis, den Verlust seines
Beines und den Erhalt seines Spitznamens Barbecue lässt an Spannung und Atmosphäre
kaum zu wünschen übrig. Und bereits jetzt wird dem Leser deutlich: In diesem Long
John Silver steckt mehr als nur ein intelligenter, skrupelloser Schlagetot.
Long John Silver, mehr als ein
charismatischer Soziopath
John Silver hatte
als Sohn eines irischen Trunkenbolds und einer selbstsüchtigen Dirne eine
schwere Kindheit. Dadurch unterschied er sich sicherlich nicht vom Gros der
Jugendlichen Unterschicht seiner Zeit. Und er beklagt sich auch nicht darüber,
nimmt aber als Erkenntnis und Handlungsgrundlage mit auf seinen Lebensweg, dass
sich jeder selbst der Nächste und niemandem gegenüber verpflichtet ist.
Freundschaft, soziale Verbindlichkeit sind, es sei denn es gereicht ihm zum
Vorteil, nicht seine Denkkategorien. Nicht primär wegen seiner vermeintlichen
Bösartigkeit, sondern vor allem wegen seiner Freiheitsliebe war ihm, wie es Larsson
im Laufe des Romans wunderbar herausarbeitet, die Karriere als Pirat
vorbestimmt. Der Leser ist hin- und hergerissen von der Persönlichkeit und der
Bewertung der Handlungen des charismatischen Soziopathen. Immerhin riskiert
John Silver mehr als einmal sein Leben für die Sache der Freiheit und seine
Rebellion gegen Autoritäten. Und selbst die Welt der Piraten ist nicht wirklich
seine. Dafür kann er sich bis zu seinem Lebensende auf die (seiner Aussage nach
einseitige) Freundschaft der von ihm freigekauften schwarzen Sklaven verlassen.
Wenn John Silver mit Daniel Defoe plaudert
Björn
Larsson legt mit seinem 1995 in Deutschland erstmals erschienenen Long John
Silver nicht nur einen spannend erzählten und wunderbar komponierten Abenteuerroman,
sondern auch ein gelungenes, in sich schlüssiges Psychogramm des einbeinigen
Outlaws vor. Dass er in diesem Zusammenhang zudem ein gut recherchiertes authentisches,
nicht romantisierendes Bild der Gesellschaft, der Seefahrt und des
Piraten(un)wesens des 17./18. Jahrhunderts zeichnet, macht die besondere
Qualität dieses Buches aus. Es ist für den Leser, der ein wenig mit der maritimen
Literatur und seinen Vertretern des 18./19. Jahrhunderts vertraut ist, ein
wahres Vergnügen, beispielsweise der Begegnung und den Gesprächen des fiktiven
Long John Silver mit dem Autor von Robinson
Crusoe, Kapitän Singleton und der
Allgemeinen Geschichte der Piraten,
Daniel Defoe beizuwohnen. Aus letzterem Werk stammen auch die
Sündenbekenntnisse der Piraten Thomas Roberts, John Cane und William Davisons, die
Larsson ebenso in die Biographie Silvers eingeflochten hat, wie Abenteuer
realer und fiktiver historischer Figuren dieser Zeit.
Eine absolut gelungene Adaption mit
Alleinstellungsmerkmal
Long John Silver gibt dem Leser eine
Menge Stoff zum Nachdenken. Nicht nur, weil der alte Pirat Lebensfragen aufwirft, die sich auch dem heutigen Menschen
immer wieder stellen, sondern weil sich aufgrund der Nähe zu Silver, in die der
Autor seine Leser durch die Teilhabe an dessen Erlebnissen, Gedankengängen und
Handlungsmotivationen geradezu drängt, fast so eine Art Stockholm-syndrom
einstellt. Eine absolut gelungene Adaption, die zu einem eigenständigen Werk
geworden ist, das auch ohne die Kenntnis der Schatzinsel Bestand hat.
Ebenfalls von Bjärn Larssen: Der Keltische Ring
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