Vergessene
Helden der Seefahrtsgeschichte
Nur wenige
Persönlichkeiten der zahlreichen Schiffschirurgen, die seit Kolumbus auf Schiffen
der Entdecker, Handelskompanien und Kriegsflotten ihren Dienst taten, sind
namentlich bekannt. Dabei, so Georg-Michael Fleischer, dürfte sich ihre Zahl
seit Ende des 15. Jahrhunderts auf mehr als 300.000 belaufen. Diesen „vergessenen
Helden der Seefahrtsgeschichte“ möchte der Autor mit seinem Buch Schiffschirurgen ein Denkmal setzen.
Bereits seit
der Antike gab es Schiffsärzte. Vor allem in den Kriegsflotten gehörten sie zum
festen Bestandteil der Besatzungen. und so ist es folgerichtig, dass der Autor
im ersten Kapitel einen kurzen Abriss zur Geschichte der Schiffsmedizin bis zum
eigentlichen Betrachtungszeitraum liefert, der Phase zwischen Kolumbus und der
Eroberung der Meere durch die
Dampfschiffe. Der Stand der Medizin und die Organisation des Gesundheitswesens
um 1500 bestimmte schließlich auch die Qualität der medizinischen Versorgung an
Bord.
Es waren überwiegend des Lesens und Schreibens unkundige Bader und Wundärzte, die seit den
ersten Entdeckungsfahrten für Jahrhunderte die maritimen Fernfahrten
begleiteten. Auch wenn der eine oder andere sein Handwerk verstanden haben
mochte, den Herausforderungen monatelanger Seereisen mit völlig neuen
Krankheiten waren die Schiffschirurgen kaum gewachsen. Ihre fachlichen Stärken
konnten sie vor allem in den Kriegsflotten bei der Versorgung von Wunden,
Brüchen oder bei Amputationen unter Beweis stellen. Dem Skorbut und den unzähligen
Tropenkrankheiten die die Schiffsbesatzungen der europäischen Ostindien- und
Neuwelt-Handelsgesellschaften dezimierten, waren auch die Schiffsärzte bis ins
19. Jahrhundert hilflos ausgeliefert.
Zahlreiche Aspekte eines komplexes Themas
Georg-Michael
Fleischer spannt einen weiten Bogen zwischen der Entwicklung der Seefahrt
allgemein, der Organisation der schiffsärztlichen Versorgung durch die großen
Handelsgesellschaften und die Admiralitäten der europäischen Seemächte und den
fachlichen Entwicklungen, Erkenntnissen und Herausforderungen der Medizin.
Bereits in diesen Kapiteln tauchen die ersten namentlich bekannten
Schiffschirurgen und ihre Leistungen auf. Auch in den Abschnitten, die sich mit
einzelnen Aspekten befassen, die für die Arbeit der Schiffschirurgen relevant
waren, begegnet der Leser herausragenden Persönlichkeiten wie beispielsweise
James Lind, dem schottischen Schiffschirurgen, der als Vater der Bordhygiene
gilt.
Der Autor
informiert den Leser über die Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord, die sich
vor allem in Enge, Schmutz und Gestank manifestierten. Ungeziefer, verdorbene
und vitaminlose Lebensmittel, fauliges Wasser und Trunkenheit führte auf den
langen Reisen zu einer hohen Mortalitätsrate. Der Arbeitsplatz der
Schiffschirurgen ist ein weiteres Thema, dem Fleischer ein eigenes Kapitel
widmet und auch Verletzungen, Skorbut und Seuchen erfahren noch einmal eine
Sonderbehandlung. Hier findet der Leser auch einen spannenden Abschnitt über
die Entwicklung von Lazarettschiffen, deren Einsatz bereits in Quellen des 16.
Jahrhunderts belegt ist. Auch den kulturgeschichtlichen Hintergründen und
Entwicklungen des überseeischen Sklavenhandels und der Rolle der Schiffsärzte
sowohl auf Sklavenschiffen als auch in Zusammenhang mit der
Abolitionisten-Bewegung widmet Fleischer ein eigenes Kapitel.
Schiffsärzte als Naturforscher
Im Rahmen
der großen Entdeckungsfahrten des 18. und 19. Jahrhunderts spielten die
Schiffsärzte in verschiedener Hinsicht eine wichtige Rolle. Das war nicht nur
ihrem inzwischen hohen medizinischen Ausbildungsstand zu verdanken. Viele der
nun auch namentlich in den Quellen auftauchenden Mediziner an Bord, haben sich
nämlich besonders durch ihre maturwissenschaftlichen und ethnografischen
Beobachtungen hervorgetan. oft genug wurden sie vor allem wegen ihrer
naturwissenschaftlichen Kompetenzen als Teil des Forschungspersonals mit an
Bord genommen.
Mit dem
Kapitel Eisenschiffe und Maschinen – das neue
maritime Zeitalter schließt der Autor den historischen Teil des Buches, um
das Biographische Lexikon der Schiffschirurgen folgen zu lassen. Mehr als 120 Persönlichkeiten aus
der Reihe der Schiffschirurgen hat Fleischer hier mit ihren biographischen
Daten und Leistungen aufgeführt.
Nicht alle
Möglichkeiten ausgeschöpft
Zweifellos
schließt das Buch eine Lücke in der maritimen Literatur. Zwar gibt es mit „Schiffs-
und Seemannsheilkunde“ und „Gesundheit an Bord“ zwei kleine populärwissenschaftliche
Überblickswerke zum Thema, eine so umfassende und vielseitige Abhandlung wie
sie Georg-Michael Fleischer mit seinen Schiffschirurgen
vorlegt, war jedoch längt überfällig. Auf eine Schwäche des Buches soll an dieser
Stelle dennoch hingewiesen werden: die inhaltliche Struktur. Sicherlich hätte
eine chronologische Gliederung dem Verständnis von Zusammenhängen und
Entwicklungen besser getan als die thematische Unterteilung, die zwangsläufig
entweder zu inhaltlichen Redundanzen oder zur Auflösung von strukturellen
Zusammenhängen führen muss.
Für die Entscheidung,
das Flaggschiff Heinrich VIII., die Mary Rose, lediglich als Abbildung zur
Darstellung einer Karake im Buch auftauchen zu lassen, wird der Autor seine
Gründe haben. Nach meiner Auffassung allerdings hätten sowohl der erhebliche
archäologische Beitrag der Artefakte des Schiffswracks zur Schiffsmedizin als
auch die beiden zumindest namentlich bekannten Surgeons Robert Sympson und sein
Assistent Henry Yonge Aufnahme in das Buch verdient.
Eine empfehlenswerte Lektüre
Ebenso
übrigens wie (nicht nur) Carl Heinrich Merck, der als Wissenschaftler an der
Billings-Sarycev-Expedition Teilgenommen und der Nachwelt mit seinem
sibirischen Tagebuch unter anderem eine wichtige historische Quelle für die
kulturwissenschaftliche und ethnologische Forschung zu den indigenen Kulturen
der Itel’menen, Cukcen, Aleuten und Yupik hinterlassen hat. Zu Recht also weist
der Autor selbst auf die Unvollständigkeit des biographischen Lexikons hin.
Allerdings vermittelt er dabei den Eindruck, dass diese vor allem der
Quellenlage geschuldet sei. Eine etwas genauere Erklärung seiner
Auswahlkriterien wäre daher schön gewesen.
Dennoch ist
das Buch aufgrund seiner komplexen und verständlichen Abhandlung des Themas eine
empfehlenswerte Lektüre für alle Menschen, die sich für die Seefahrtsgeschichte
und hier die realen Bedingungen an Bord von Segelschiffen der Neuzeit
interessieren. Auch für kulturgeschichtlich interessierte Mediziner ist
Fleischers „Hommage an die vergessenen Schiffsärzte der Seefahrtsgeschichte“
mit Sicherheit aufschlussreich.
Georg-Michael
Fleischer: Schiffschirurgen von Kolumbus bis Nelson. Vergessene Helden der
Seefahrtsgeschichte. Kaden 2016.
gebunden, 279 Seiten.
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