Mittwoch, 28. Dezember 2016

Schiffschirurgen von Kolumbus bis Nelson

Vergessene Helden der Seefahrtsgeschichte

Nur wenige Persönlichkeiten der zahlreichen Schiffschirurgen, die seit Kolumbus auf Schiffen der Entdecker, Handelskompanien und Kriegsflotten ihren Dienst taten, sind namentlich bekannt. Dabei, so Georg-Michael Fleischer, dürfte sich ihre Zahl seit Ende des 15. Jahrhunderts auf mehr als 300.000 belaufen. Diesen „vergessenen Helden der Seefahrtsgeschichte“ möchte der Autor mit seinem Buch Schiffschirurgen ein Denkmal setzen.

Bereits seit der Antike gab es Schiffsärzte. Vor allem in den Kriegsflotten gehörten sie zum festen Bestandteil der Besatzungen. und so ist es folgerichtig, dass der Autor im ersten Kapitel einen kurzen Abriss zur Geschichte der Schiffsmedizin bis zum eigentlichen Betrachtungszeitraum liefert, der Phase zwischen Kolumbus und der Eroberung der Meere durch  die Dampfschiffe. Der Stand der Medizin und die Organisation des Gesundheitswesens um 1500 bestimmte schließlich auch die Qualität der medizinischen Versorgung an Bord.
Es waren überwiegend des Lesens und Schreibens unkundige Bader und Wundärzte, die seit den ersten Entdeckungsfahrten für Jahrhunderte die maritimen Fernfahrten begleiteten. Auch wenn der eine oder andere sein Handwerk verstanden haben mochte, den Herausforderungen monatelanger Seereisen mit völlig neuen Krankheiten waren die Schiffschirurgen kaum gewachsen. Ihre fachlichen Stärken konnten sie vor allem in den Kriegsflotten bei der Versorgung von Wunden, Brüchen oder bei Amputationen unter Beweis stellen. Dem Skorbut und den unzähligen Tropenkrankheiten die die Schiffsbesatzungen der europäischen Ostindien- und Neuwelt-Handelsgesellschaften dezimierten, waren auch die Schiffsärzte bis ins 19. Jahrhundert hilflos ausgeliefert.

Zahlreiche Aspekte eines komplexes Themas

Georg-Michael Fleischer spannt einen weiten Bogen zwischen der Entwicklung der Seefahrt allgemein, der Organisation der schiffsärztlichen Versorgung durch die großen Handelsgesellschaften und die Admiralitäten der europäischen Seemächte und den fachlichen Entwicklungen, Erkenntnissen und Herausforderungen der Medizin. Bereits in diesen Kapiteln tauchen die ersten namentlich bekannten Schiffschirurgen und ihre Leistungen auf. Auch in den Abschnitten, die sich mit einzelnen Aspekten befassen, die für die Arbeit der Schiffschirurgen relevant waren, begegnet der Leser herausragenden Persönlichkeiten wie beispielsweise James Lind, dem schottischen Schiffschirurgen, der als Vater der Bordhygiene gilt.
Der Autor informiert den Leser über die Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord, die sich vor allem in Enge, Schmutz und Gestank manifestierten. Ungeziefer, verdorbene und vitaminlose Lebensmittel, fauliges Wasser und Trunkenheit führte auf den langen Reisen zu einer hohen Mortalitätsrate. Der Arbeitsplatz der Schiffschirurgen ist ein weiteres Thema, dem Fleischer ein eigenes Kapitel widmet und auch Verletzungen, Skorbut und Seuchen erfahren noch einmal eine Sonderbehandlung. Hier findet der Leser auch einen spannenden Abschnitt über die Entwicklung von Lazarettschiffen, deren Einsatz bereits in Quellen des 16. Jahrhunderts belegt ist. Auch den kulturgeschichtlichen Hintergründen und Entwicklungen des überseeischen Sklavenhandels und der Rolle der Schiffsärzte sowohl auf Sklavenschiffen als auch in Zusammenhang mit der Abolitionisten-Bewegung widmet Fleischer ein eigenes Kapitel.

Schiffsärzte als Naturforscher

Im Rahmen der großen Entdeckungsfahrten des 18. und 19. Jahrhunderts spielten die Schiffsärzte in verschiedener Hinsicht eine wichtige Rolle. Das war nicht nur ihrem inzwischen hohen medizinischen Ausbildungsstand zu verdanken. Viele der nun auch namentlich in den Quellen auftauchenden Mediziner an Bord, haben sich nämlich besonders durch ihre maturwissenschaftlichen und ethnografischen Beobachtungen hervorgetan. oft genug wurden sie vor allem wegen ihrer naturwissenschaftlichen Kompetenzen als Teil des Forschungspersonals mit an Bord genommen.
Mit dem Kapitel Eisenschiffe und Maschinen – das neue maritime Zeitalter schließt der Autor den historischen Teil des Buches, um das Biographische Lexikon der Schiffschirurgen folgen  zu lassen. Mehr als 120 Persönlichkeiten aus der Reihe der Schiffschirurgen hat Fleischer hier mit ihren biographischen Daten und Leistungen aufgeführt.

Nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft

Zweifellos schließt das Buch eine Lücke in der maritimen Literatur. Zwar gibt es mit „Schiffs- und Seemannsheilkunde“ und „Gesundheit an Bord“ zwei kleine populärwissenschaftliche Überblickswerke zum Thema, eine so umfassende und vielseitige Abhandlung wie sie Georg-Michael Fleischer mit seinen Schiffschirurgen vorlegt, war jedoch längt überfällig. Auf eine Schwäche des Buches soll an dieser Stelle dennoch hingewiesen werden: die inhaltliche Struktur. Sicherlich hätte eine chronologische Gliederung dem Verständnis von Zusammenhängen und Entwicklungen besser getan als die thematische Unterteilung, die zwangsläufig entweder zu inhaltlichen Redundanzen oder zur Auflösung von strukturellen Zusammenhängen führen muss.
Für die Entscheidung, das Flaggschiff Heinrich VIII., die Mary Rose, lediglich als Abbildung zur Darstellung einer Karake im Buch auftauchen zu lassen, wird der Autor seine Gründe haben. Nach meiner Auffassung allerdings hätten sowohl der erhebliche archäologische Beitrag der Artefakte des Schiffswracks zur Schiffsmedizin als auch die beiden zumindest namentlich bekannten Surgeons Robert Sympson und sein Assistent Henry Yonge Aufnahme in das Buch verdient.

Eine empfehlenswerte Lektüre

Ebenso übrigens wie (nicht nur) Carl Heinrich Merck, der als Wissenschaftler an der Billings-Sarycev-Expedition Teilgenommen und der Nachwelt mit seinem sibirischen Tagebuch unter anderem eine wichtige historische Quelle für die kulturwissenschaftliche und ethnologische Forschung zu den indigenen Kulturen der Itel’menen, Cukcen, Aleuten und Yupik hinterlassen hat. Zu Recht also weist der Autor selbst auf die Unvollständigkeit des biographischen Lexikons hin. Allerdings vermittelt er dabei den Eindruck, dass diese vor allem der Quellenlage geschuldet sei. Eine etwas genauere Erklärung seiner Auswahlkriterien wäre daher schön gewesen.
Dennoch ist das Buch aufgrund seiner komplexen und verständlichen Abhandlung des Themas eine empfehlenswerte Lektüre für alle Menschen, die sich für die Seefahrtsgeschichte und hier die realen Bedingungen an Bord von Segelschiffen der Neuzeit interessieren. Auch für kulturgeschichtlich interessierte Mediziner ist Fleischers „Hommage an die vergessenen Schiffsärzte der Seefahrtsgeschichte“ mit Sicherheit aufschlussreich.

Georg-Michael Fleischer: Schiffschirurgen von Kolumbus bis Nelson. Vergessene Helden der Seefahrtsgeschichte. Kaden 2016. gebunden, 279 Seiten.

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