In einer
Höhle an der Küste Neukaledoniens des Jahres 1837 beginnt die von den bretonischen
Comickünstlern Younn Locard und Florent Grouazel inszenierte fiktive Geschichte
des Kanaken Èloi. Der wird aus wissenschaftlichen Gründen vom Naturforscher
Pierre Delaunay an Bord der Fregatte La
Renommée entführt, die nach erfolgreicher Kartierung der Küsten der
melanesischen Inselgruppe nach Frankreich
zurückkehrt. Im Mikrokosmos des Schiffes, von dem es während der langen Reise
kein Entrinnen gibt, entwickelt sich eine Tragödie, gespeist aus Vorurteilen,
Selbstüberschätzung und kultureller Ignoranz.
Edler Wilder vs Monster
Die Künstler
zeichnen eine monochrome Welt (blau unterlegte schwarzweiß Zeichnungen) voller Klischees.
Da ist der Geistliche, dem die Taufe und der Weg des „Wilden“ zu Gott so
wichtig ist oder der Wissenschaftler, für den der Kanake ein Studienobjekt
darstellt, an dem sich sowohl die Evolution als auch der damals letzte Schrei
der Naturwissenschaften, die Schädellehre (Phrenologie), studieren lässt. Auch
der Kapitän, die Offiziere und nicht zuletzt die Mannschaftsmitglieder folgen übrigens
auch optisch den gängigen Vorstellungen über die Protagonisten und die Sitten an
Bord eines Kriegsschiffes des 19. Jahrhunderts.
Integration nach europäischer Art
Und so ist
es kein Wunder, dass der indigene Neukaledonier gemobbt, geprügelt, verhöhnt
und verachtet wird, von nahezu allen, auf ganz unterschiedliche Art und aus
unterschiedlichen Gründen. Und dennoch scheint sich langsam zunächst eine Art
Integration des ethnischen Fremdkörpers in den Schiffsbetrieb anzudeuten. Aber
Integration bedeutet noch lange keine kulturelle Akzeptanz geschweige denn das
Bemühen von Verstehen des „Andersartigen“. Nach wie vor bemühen sich alle
beteiligten, ihre Vorurteile bestätigt zu sehen, Èloi kann machen und lernen,
was er will, er bleibt der Wilde, der Menschenfresser, der Dumme. Und je mehr
Èloi lernt, desto stärker regt sich in ihm der Widerstand gegen die Verletzung
seiner Menschenwürde.
Klischees als didaktisches Instrument
Das Buch
lebt von seinen Klischees. Denn erst diese Vereinfachung erlaubt es, die
Konflikte, die heute mindestens so aktuell sind wie im 19. Jahrhundert
einerseits zu verdeutlichen, andererseits ad absurdum zu führen. Und dass die
Problematik von den Künstlern in die Enge eines Segelschiffes vergangener
Zeiten gezwängt wird, führt zudem dazu, dass sich niemand den Widersprüchen
zwischen persönlicher Überzeugung, Ängsten und Wirklichkeit entziehen kann.
Genau das ist übrigens der Grund, weshalb die Geschichte in einer Tragödie
enden muss. Zwar führen die Ereignisse vor allem bei den Mitgliedern der
Bordelite zu gewissen Nachdenklichkeiten und Verhaltensänderungen, die
Gesamtsituation und die soziale Eigendynamik der maritimen Versuchskammer
Schiff erlaubt zumindest im Fall der Renommée kein happy end.
Instrumentalisierung von Menschen als gesellschaftliches
Prinzip
Das Buch ist
zweifellos empfehlenswert, zwingt es den Betrachter doch dazu, sich – als Teil
der Schiffsgesellschaft – mit den vielen angerissenen Problematiken
auseinanderzusetzen. Dabei ist es nicht nur die Geschichte des Kanaken, die
Problematik des Rassismus und der europäischen Überheblichkeit, die in dem Buch
aufgegriffen werden. Denn die selbstgerechte Wissenschaftsgläubigkeit,
religiöser Eifer, soziale Differenzierung und generell die Instrumentalisierung
von Menschen im wissenschaftlichen, ökonomischen, ideologischen und
machtpolitischen Interesse ist ja ein Phänomen, das nicht nur gegen
außereuropäische Kulturen gerichtet ist.
auf- und anregende Lektüre
Als Kenner
der Seefahrtsgeschichte erfreut sich der Rezensent an den historisch doch sehr
genauen Darstellungen des Schiffsbetriebes auch einmal aus französischer
Perspektive. Trotzdem sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass die
Geschichte vor allem Fiktion ist. Sie ist hinsichtlich der beabsichtigten
Botschaft gut und glaubhaft konstruiert, dürfte allerdings aus verschiedenen,
hier nicht näher auszuführenden Gründen keine wirklich typische Situation an
Bord eines Forschungs-Kriegsschiffes der damaligen Zeit wiedergeben. Trotzdem
ist Èloi natürlich auch historisch recht anregend. Denn wer kennt hierzulande
schon die französischen Seefahrer und Entdecker des 18./19. Jahrhunderts deren
Reisen im Schatten der französischen Revolution in verschiedener Hinsicht für
die Geschichte Pate gestanden haben dürften. Immerhin, Louis Antoine de Bougainville (auf ihn wird
auch im Buch Bezug genommen) war es 1769 gelungen, Ahutoru, den Sohn eines
tahitianischen Stammesfürsten auf der Fregatte Boudeuse als ersten Polynesier unbeschadet nach Frankreich zu
bringen.
Younn
Locard, Florent Grouazel: Èloi.
Avant-Verlag 2015. Gebunden, 222 Seiten.
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