Mit zwei
Jahren an eine „Zigeunerin“ verkauft, mit sechs Jahren nach dem Ableben
(Galgen) seiner Ziehmutter von der kirchlichen Fürsorge in den Gemeinden
herumgereicht und schließlich im Alter von 11 Jahren von einem Kapitän
adoptiert, fuhr Bob Singleton bereits als Zwölfjähriger zur See. Seine Karriere
als Abenteurer und Pirat schien geradezu zwangsläufig. Denn Sklaverei, Meuterei
und Betrug prägten schon die verlorene Kindheit des Protagonisten von Daniel
Defoes 1720 unter dem Titel „The Life, Adventures and Piracies of the Famous
Captain Singleton“ erstmals veröffentlichten Roman „Kapitän Singleton“.
Menschen
werden nach ihrem Nutzen bewertet
Denn trotz
der ungünstigen charakterlichen Voraussetzungen denkt Singleton selbst nach der
Meuterei, für die er vom Kapitän mit einer Gruppe Matrosen auf Madagaskar
ausgesetzt wird, nicht in erster Linie an die Anhäufung von Reichtümern. Hierzu
wird er von einem Engländer, auf den er durch Zufall bei seiner Durchquerung
Afrikas stößt, geradezu gedrängt. Und so kehrt er schließlich mit einem
Vermögen aus in afrikanischen Flüssen geschürften Goldes und den Gewinnen aus
dem Verkauf von im Kontinent zusammengesammeltem und verkauftem Elfenbein nach
England zurück. Noch ist Singleton kein richtiger Pirat, sondern eher ein
Abenteurer, der niemandem ohne Grund etwas zu Leide tut, wenn man von der
Versklavung von „Negern“ zum Zwecke des Transports und Goldschürfens absieht –
nichts Ehrenrühriges in jener Zeit. Und selbstverständlich muss man sich in
einem fremden Land gegen die Angriffe von Wilden wehren, wenn sie die dringend
benötigten Lebensmittel nicht freiwillig zur Verfügung stellen. Immerhin,
Singleton und seine Männer waren immer zum Handel mit den Eingeborenen bereit, ob diese wollten oder
nicht.
Reichtum
durch Raub und Handel
Wie könnte
es anders sein, wurde Singleton in England wiederum Opfer falscher Freunde und
Betrüger. Er verlor sein gesamtes Vermögen, nicht ganz ohne sein eigenes Zutun,
wie er eingestand. Und so war er wiederum gezwungen, in die Welt zu ziehen und
dort sein Glück zu versuchen. Und er hatte gelernt, dass Reichtum das einzige
ist, was zählt in dieser Welt, egal, wie er zustande gekommen ist. Singletons
Karriere als professioneller Pirat begann. Bei seinen Raubzügen in der Karibik,
den ostafrikanischen, indonesischen und indischen Gewässern verhielt sich
Singleton in der Regel durchaus kaufmännisch rational. Nach dem Motto ‚möglichst
wenig Risiko bei maximalen Gewinnaussichten‘, konzentrierte er sich auf Gegner,
von denen wenig Widerstand, dafür aber leicht verwertbare Beute zu erwarten war.
Dabei hatte er im listigen Quäker William, der als Gefangener zu Singleton an
Bord gekommen war, einen wichtigen Freund und Berater, der ihn von mancher unnötigen
Grausamkeit von unüberlegten und riskanten Aktionen abhielt und die geraubten
Waren durch „ehrlichen“ Handel vermögenswirksam verwertete.
Zwischen
Profit und Gewissen
Am Ende war
es auch William, der Singleton zur Reue über seine Taten und zur Aufgabe seines
gottlosen Piratenlebens brachte. In England schließlich heiratete Singleton
Williams Schwester und alle drei führten dort ein reuevolles aber – wie Singleton
betont - unverdient glückliches Leben. Mit „Kapitän Singleton“ und seinen
bekannteren Werken wie „Robinson Crusoe“ gehört Daniel Defoe nicht nur zu den
Gründern des bürgerlichen Romans sondern er hat mit ihnen auch die moralischen Widersprüche
des aufstrebenden Bürgertums thematisiert. Im Nachwort des Buches beschreibt
Günther Klotz diesen Aspekt von Daniel Defoes Schaffen folgendermaßen: „Es ging
darum, wie der Widerspruch zwischen bürgerlichem Interesse und bürgerlicher
Tugendvorstellung zu lösen und wo die Grenzen zwischen individuellem
Glücksstreben und rücksichtsloser Übervorteilung der Konkurrenz zu finden sei.“
Und Defoe selbst schrieb in der Zeitschrift „Review“ im Jahre 1704: „Die Leute
neigen sehr dazu, ihren Profit und ihr Gewissen miteinander in Einklang zu
bringen.“
Ein Abenteuerroman
mit kulturhistorischem Tiefgang
„Kapitän
Singleton“ ist – da teilweise auch autobiographisch geprägt – neben einem
spannenden Abenteuer- und Piratenroman ein Stück Ideologie- Literatur- und
Kulturgeschichte. Möglicherweise sind diese Aspekt bedeutender als die
Romangeschichte selbst. Stilistisch ist das Buch zweifellos
gewöhnungsbedürftig, bedient sich Defoe doch der verhältnismäßig umständlichen
Darstellung der Reiseberichte des 17. Jahrhunderts. In der Gesamtbewertung
sicherlich eine lohnenswerte Lektüre. Das Nachwort von Günther Klotz an den
Anfang zu stellen, würde der Motivation, sich mit dem für die heutige Zeit etwas
schwer zu lesenden Stil anzufreunden, ebenso guttun, wie dem Verständnis des Dargestellten
in seinem historischen Kontext.
Daniel
Defoe: Kapitän Singleton. Unionsverlag 2014. Taschenbuch 364 Seiten.
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