Wie so oft sind auch bei „Reisende Helden“ der englischsprachige Original(unter)titel und der Klappentext deutlich treffender und prägnanter als ihre deutschsprachigen Pendants. Zu Recht heißt es in der englischsprachigen Kurzbeschreibung: „This remarkable and original book proposes a new way of thinking about the Greeks and their myths in the age of the great Homeric hymns”.
Die Arbeit von Fox ist tatsächlich bemerkenswert, versucht er doch die Ursprünge, Entstehung und Entwicklung der griechischen Mythologie nicht nur aus Textvergleichen und Literaturstudien abzuleiten, sondern aus einer aus der griechischen Literatur des 1. Jahrtausends ableitbaren zeitgenössischen Perspektive, aus der Mentalität der euböischen Reisenden des 8. Jahrhunderts heraus – seiner reisenden Helden – zu erklären.
Zu erklären hat der Fellow an der Universität Oxford so einiges, denn viele der Erkenntnisse die Fox unter Hinzuziehung von Fakten aus Linguistik, Archäologie, Geografie oder Literaturwissenschaft detailliert und plausibel ableitet, sind nicht nur verhältnismäßig neu, sondern – wie im Wissenschaftsbetrieb üblich – umstritten.
Im Schatten der Phönizier
Wenn vom Handel im Mittelmeerraum des ersten vorchristlichen Jahrtausends die Rede ist, dann werden sofort die Phönizier genannt. Ihre umfassenden Aktivitäten lassen sich an den schriftlichen Dokumenten ihrer mächtigen Handelspartner wie Assyrer oder Ägypter, in ihren Niederlassungen in der Levante, Nordafrika oder Spanien und nicht zuletzt den zahlreichen archäologischen Funden phönizischer Handelswaren ablesen. Und während die Phönizier als die antike Seefahrernation schlechthin gelten, waren die Griechen nach dem Zusammenbruch der mykenischen Kultur nach landläufiger Vorstellung im sogenannten dunklen Zeitalter verschwunden.
Dass das dunkle Zeitalter so dunkel gar nicht war, hat sich – wie aktuelle Literatur und die Ausstellung „Zeit der Helden“ des Badischen Landesmuseums 2008/09 belegt, in der Wissenschaft inzwischen herumgesprochen. Die Entdeckung der herausragenden Rolle der euböischen seefahrenden Handelsreisenden des 8. vorchristlichen Jahrhunderts bei der Entwicklung der Kultur der griechischen Antike hingegen darf sicherlich als Verdienst von Fox gelten.
Das Prinzip des kreativen Missverständnisses
Die systematische Art, in der Fox sich in die Denkweise seiner reisenden Helden hineinarbeitet, eröffnet dem Leser neue Horizonte. Nicht nur, dass er mit den verwegenen euböischen Seefahrern zu neuen Ufern und Inseln im gesamten Mittelmeerraum aufbricht und dabei erfahren kann, mit was für einer geographisch-kulturellen Welt die Helden des „dunklen Zeitalters“ konfrontiert waren und wie sie darauf reagierten. Die sich durch das ganze Buch ziehenden Darstellungen dessen, was Fox als „kreative Missverständnisse“ bezeichnet, machen dem Leser auch klar, dass die massiven in der griechischen Mythologie und Kultur festzustellenden orientalischen Einflüsse nicht von den Phöniziern nach Griechenland gebracht wurden. Vielmehr waren es ganz offensichtlich die reisenden Helden, die die fremden Mythen, Begriffe und Kulte ihrer eigenen Vorstellungswelt schöpferisch angepasst, in diese integriert und schließlich mit nach Hause gebracht hatten. Und so folgt Fox, nachdem er die Wege seiner Helden nachgezeichnet hatte im Anschluss den Wegen, die die Mythen über Zeit und Raum genommen hatten.
Hesiod und seine Sammlung von „just so stories“
Kein Wunder, dass vor diesem Hintergrund auch Homer und Hesiod ständige Begleiter auf der wissenschaftlichen Reise in die Vergangenheit sind. Die sind aber nicht nur zeitgenössische Informationsquelle, sondern auch Gegenstand (Literatur-)kritischer Analysen. Fox datiert beide in das einzigartige griechische 8. Jahrhundert. Homer als literarischer Zeitzeuge des Beginns euböischen Aufbruchs in die unbekannte Welt, Hesiod mit seinen „just so stories“ als Beleg für den kreativen Kulturtransfer, der mit der rund 100jährigen Epoche der reisenden Helden am Ende verbunden war. Bei der Reise in die Welt der Ursprünge der griechischen Mythen begegnen dem Leser mehr oder weniger bekannte Figuren wie Aphrodite, Uranos, Typhon, Adonis, natürlich Zeus, Hera, Drachen oder Titanen. Auch diese Gestalten klassischer Bildung lernt der Leser bei Fox von ganz anderen Seiten kennen.
Extrem informationsdicht und dennoch gut lesbar
Die Positionen, die Fox in seinem Buch formuliert, sind jeweils hervorragend und plausibel begründet. So formuliert der Autor nicht nur seine eigenen Interpretationen der komplexen archäologischen und literarischen Quellenlage, in die er alle relevanten Kulturen des Betrachtungszeitraumes mit einbezieht. Ausgangspunkt seiner unter vielen Aspekten vorgenommenen Betrachtungen, ist jeweils die vorherrschende Lehrmeinung, an deren wissenschaftlichen Grundlagen er seine Positionen immer wieder neu überprüft, sie gelegentlich verwirft, um sich der Fragestellung gegebenenfalls und auf der Basis aktueller archäologischer Funde von anderer Seite erneut zu nähern. Einschließlich des aufschlussreichen Fußnotenapparates und der umfangreichen Bibliografie wird der Leser immerhin mit knapp 550 Seiten Text konfrontiert, der sich zwar gut lesen lässt, angesichts der Informationsdichte jedoch ungeteilte Aufmerksamkeit erfordert. Sicherlich ist es auch der guten Übersetzung (heutzutage leider nicht mehr selbstverständlich) von Susanne Held zu verdanken, dass der Text locker, angemessen humorig und dennoch sehr kompetent herüberkommt.
Robin Lane Fox: Reisende Helden, Die Anfänge der griechischen Kultur im homerischen Zeitalter. Klett-Cotta 2011, Gebunden mit Schutzumschlag, 550 Seiten.
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