Hält man das gewichtige und sehr schön ausgestattete Buch „Die Entdeckung der Arktis“ zum ersten mal in den Händen, möchte man sich am liebsten ein Stehpult anschaffen, um die Lektüre mit einer gewissen Andacht zu zelebrieren.
Immerhin enthält das 352 Seiten starke Buch mit den imposanten Maßen von etwa 25 x 35 Zentimetern nicht nur mehr als 100 großformatige zeitgenössische und moderne Karten, teilweise erstmals veröffentlicht, sondern auch noch rund 170 Abbildungen aus westeuropäischen Museen, Archiven und Privatsammlungen.
Pytheas und die Expedition nach Thule
Ausgerechnet der Grieche Pytheas, ein Bewohner des warmen Mittelmeeres war es, der um 320 vor unserer Zeitrechnung aufgebrochen war, um die nördlichen, vermeintlich unbewohnbaren Regionen dieser Erde zu erforschen. Seine Beschreibungen von Thule wurden von seinen Zeitgenossen, aber auch den späteren antiken Wissenschaftlern als Hirngespinste kritisiert. Gerade aber die damals unglaubwürdigsten Beschreibungen Pytheas, beispielsweise der Mitternachtssonne oder des Eismeeres, belegen, dass die Reise tatsächlich stattgefunden hatte. Und so machen sich die Autoren von „Die Entdeckung der Arktis“ daran, die Diskussion um Pytheas Reiseroute und die Lage des sagenhaften Thule zu rekonstruieren.
Aber so beeindruckend die Leistungen der antiken Nordlandforscher auch gewesen sein mögen, das zweite Kapitel gewährt spannende Einblicke in die Lebensweise der wahren Eroberer des Polarkreises, der zahllosen Eskimovölker Alaskas, der Samen, der Komi oder der Jakuten, der Nenzen, Evenen oder Tschuktschen Sibiriens, die die Arktis bereits vor rund 10.000 Jahren besiedelt hatten.
Die Arktis als Schauplatz internationaler Interessen
Im Mittelalter suchten die irischen Mönche, die Wikinger und seit der frühen Neuzeit die Entdeckungsreisenden und Händler ihre Wege in den Norden. Nationale und koloniale Interessen führten seit dem 17. Jahrhundert zu wissenschaftlichen Expeditionen mit dem Ziel der möglichst exakten Kartierung und Bestandsaufnahme von lukrativen Bodenschätzen und Handelsgütern. Walfang- und Handelsstationen entstanden, die nördlichen Regionen waren zur politischen und ökonomischen Interessensphäre der großen Handels- und Seefahrtsnationen geworden. „Die Entdeckung der Arktis“ behandelt die Geschichte der Nordpolarregion aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Dabei, das muss bei einem so komplex angelegten Thema betont werden, ist das Buch inhaltlich ausgezeichnet strukturiert. Die immer wieder „zwischengeschalteten“ Seiten mit Hintergrundinformationen beispielsweise zu Naturphänomenen, Navigation, Expeditionsschiffen oder Geografie sind im Prinzip geeignet, dem Leser die Herausforderungen und Möglichkeiten der Expeditionen unter den jeweiligen zeitgenössischen Rahmenbedingungen anschaulich zu vermitteln.
Arktis und Schifffahrt
Die Autoren „Matti Lainema und Juha Nurminen,“ so heißt es im Klappentext des Buches sicher zu recht, „sind ausgewiesene Fachleute zu Themen der nordischen Schifffahrt und Navigation im Allgemeinen und der Erforschung der Arktis im Besonderen.“ Für die Übersetzer des 2001 erstmals erschienenen, ursprünglich englischsprachigen Buches jedoch gilt das nicht einmal ansatzweise. Bar jeder Sachkompetenz drücken sie dem armen Eskimo in seinem Kajak zwei Paddel statt eines Doppelpaddels in die Hand, lassen das Nyndam-Boot auf 64 Meter Länge anwachsen, klinkern bei Wikingerschiffen statt der Aussenhaut die Planken selbst, ordnen bei Barents Forschungsschiff die Decks neu an und lassen den Leser hier zudem mit der Frage zurück, was wohl ein „normal großes Deck“ sein könnte. Da wird nicht der Walspeck, sondern der flüssige Tran in Streifen geschnitten, Korsettstangen bestehen hier aus den angeblich so „elastischen Walknochen“ und nicht etwa aus den Walbarten, auch Fischbein genannt. Und beileibe nicht zuletzt wird aus einem Schiff, in dessen Bug schwere Mörser (Bombarden) aufgestellt sind, um von See aus Sprenggranaten (im damaligen Sprachgebrauch Bomben) in hohem Bogen über die Mauern einer Festung zu schießen, kurzerhand „ein normalerweise mit Bomben bestückter Küstensegler“.
„Die Entdeckung der Arktis“, eine Enttäuschung
Die Übersetzungsleistung hält sich auch bei den fachlich weniger anspruchsvollen Textpassagen in Grenzen und steht in keinerlei Verhältnis zu der wunderschönen Ausstattung mit den großformatigen historischen Abbildungen und Karten, Schiffsmodellen und immer wieder auch sehr informativen Übersichtskarten mit den tatsächlichen oder vermuteten Reiserouten der Entdecker. Die ausgezeichnete Arbeit der Autoren, die das Thema spannend und umfassend behandelt sowie hervorragend strukturiert haben, wird durch die nicht nur für solch ein prächtiges Buch unakzeptable Übersetzung geradezu entwertet.
Lainema, Nurminen: Die Entdeckung der Arktis. Theiss Verlag 2010. Gebunden mit Schutzumschlag, 352 Seiten.
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