Bereits mehr als 200 Jahre wird über das Phänomen der Hanse geforscht und noch heute bleiben viele Fragen offen. Das hat nicht nur mit der teilweise mageren Quellenlage zu tun. Vielmehr war und ist die Hanse als beeindruckendes Kapitel Deutscher Geschichte natürlich auch ein Politikum sowohl im positiven als auch im negativen Sinne.
Als Beispiel für die politische Instrumentalisierung sei hier nur auf die 1940 in München eröffnete Ausstellung „Deutsche Größe“ hingewiesen, in deren Rahmen der Hanse zusammen mit dem Deutschen Orden die Kolonialisierung des Ostens im Mittelalter zugesprochen wurde. Die hochkarätigen Hanseforscher Prof. Dr. Rolf Hammel-Kiesow und Prof. Dr. Matthias Puhle räumen im Buch mit dem schlichten Titel „Die Hanse“ mit vielen Vorurteilen und Fehleinschätzungen des faszinierenden mittelalter- und neuzeitlichen Handelssystems auf. Und so schlicht sich der Titel auch darstellt, aus inhaltlichen Aspekten hätte man kaum einen besseren wählen können.
Die Hanse, ein System mit Widersprüchen
Erst die Gesamtschau macht nämlich klar, wie vielschichtig das Phänomen Hanse eigentlich war. Die Hanse war – wie jeder weiß – ein Städtebund. Als Handelssystem aber existierte sie bereits vor dem Zusammenschluss der Hansestädte und war auch nach dem Zerfall des Bundes weiterhin sehr erfolgreich aktiv. Die Hanse war auch politisch ein Global Player, verfolgte aber keinerlei territoriale Interessen. Die Hanse war eingebunden in die territorialen Macht- und Herrschaftsstrukturen ihrer Zeit. Ihre Organisationsstruktur hatte deren Grenzen jedoch überwunden. Die Hanse war ein komplexes Gebilde mit Regeln und Verträgen, eine mittelalterliche Institution war sie jedoch nicht. Solche Widersprüchlichkeiten ließen sich noch viele aufzählen und sie belegen nur, dass trotz der zahlreichen Bücher, die bereits über die Hanse erschienen sind, das hier rezensierte Buch aus dem Primus-Verlag durchaus seine Berechtigung auf dem Markt hat.
Kooperationsprojekt Hanse
Schritt für Schritt entwickeln die Autoren die Entstehung und den Untergang des komplexen Handelsnetzwerkes von seinen Anfängen im 11. und 12. Jahrhundert bis zu seinem Ende, das zeitlich noch weit über den letzten Hansetag 1669 hinausreichte. Ein Schwerpunkt hierbei die Organisation der Hanse mit ihren Kontoren, den Städten und ihren politischen Systemen und dem Hansetag. Bereits hier wird deutlich, dass weder die Hanse noch ihre Städte, Kontore und Niederlassungen eine einheitliche politisch-organisatorische Struktur besaßen, sondern ein flexibles und personengebundenes System zielgerichteter Kooperationen darstellte. Und so gab es auch nicht den hansischen Kaufmann, sondern ein sich ständig veränderndes Beziehungsgeflecht unterschiedlich spezialisierter Handelsleute. Allein die Ausbildung eines Kaufmannes dauerte, wie die Autoren in ihrem zweiten Schwerpunkt über das Netzwerk des hansischen Handels darstellen, mehr als 12 Jahre. Lebenslanges Lernen dürfte für die hoch- und umfassend qualifizierten mittelalterlichen Kaufleute eine Selbstverständlichkeit gewesen sein.
Die Hanse das logistische Netzwerk
Natürlich fehlen in der hervorragenden Gesamtschau auch die Vitalienbrüder, die Kogge und die Kriege, an denen die Hanse beteiligt war, nicht. Und selbstverständlich tragen auch diese Themen zum Verständnis des Phänomens Hanse bei, das der Leser zunehmend als sich ständig erneuerndes logistisches System zu begreifen beginnt, bei dem sich die alte Streitfrage, ob die Hanse beispielsweise dem italienischen Handelssystem mit seiner Geld- und Kreditwirtschaft unterlegen war, stark relativiert. Die Autoren von „Die Hanse“ vermitteln mit ihrem Werk nicht nur Geschichte als Information über Ereignisse der Vergangenheit, sondern vor allem auch ein grundsätzliches Verständnis von historischer Dynamik, von Zusammenhängen, Abläufen und Prozessen. Damit befreien sie „die Hanse“ auch von den ideologischen Lasten und Vorurteilen, denen sie in den 200 Jahren der Hanseforschung immer wieder ausgesetzt war.
Das Buch „Die Hanse“
Das Buch „Die Hanse“, das nach dem Anspruch der Autoren einen möglichst großen Leserkreis erreichen soll, und diesen auch verdient hat, ist aber nicht nur von seinem inhaltlichen Ansatz her empfehlenswert. Mit seinen zahlreichen historischen Abbildungen und nicht zuletzt den Fotos des Fotografen Siegfried Wittenburg ist das Buch auch einfach schön. Gerüstet mit dem Wissen aus der Lektüre des Buches, machen zudem die doppelseitigen Portraits ausgewählter Hansestädte in Wort und Bild Lust, das heutige Nordeuropa auf den Spuren der Hanse durch die Jahrhunderte einmal selbst zu bereisen.
Hammel-Kiesow, Puhle, Wittenburg: „Die Hanse“. Primus 2009. Gebunden mit Schutzumschlag, 215 Seiten.
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