Eine umfassende Geschichte der amerikanischen Flussdampfschifffahrt aus dem Jahre 1949 hat der amerikanische Verlag Dover Publications als leicht überarbeiteter Reprint im Jahr 1993 publiziert. Nach wie vor ein Standardwerk.
Wer kennt sie nicht, die legendären Mississippidampfer mit den palastartigen Aufbauten, die bei Mark Twain oder in Western über die Flüsse des ‚Wilden Westens’ gleiten. Aber wer weiß schon etwas über die Entstehung dieser merkwürdigen Flussdampfer und ihre Rolle bei der Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft, Wirtschaft und Nation.
Der amerikanische Wirtschaftshistoriker Louis C. Hunter hatte mit seiner 1949 bei der Havard University Press veröffentlichten Originalpublikation nicht nur ein Überblickswerk über ein Jahrhundert amerikanischer Technik- und Wirtschaftsgeschichte sondern zudem eine gewaltige Datensammlung vorgelegt. Geradezu akribisch werden beispielsweise im Kapitel ‚Einführung und Verbreitung der Dampfschifffahrt im Westen’ die Entwicklung von Tonnagen, Frachten und Einsatzgebieten in den verschiedenen westlichen Flusssystemen im Laufe des 19. Jahrhunderts aufgelistet.
Flussschifffahrt, ein amerikanisches Experimentierfeld
Es sind aber nicht nur diese Mengen an Detailinformationen, die jedes Kapitel der insgesamt knapp 700 engbedruckten Seiten des Taschenbuches füllen. Teil1 des Buches ‚Steamboats on the Western Rivers’ befasst sich unter dem Titel ‚Das Dampfschiff als wirtschaftliches Instrument’ ausführlich mit der technisch-kontruktiven Seite der Riverboats. Besonders spannend hier die Entwicklung nach dem Prinzip Versuch und Irrtum vom klassischen starken ‚Segelschiffsrumpf’ der ersten Dampfschiffe bis hin zum flachbodigen und fragilen Maulesel der Flüsse mit den gewaltigen Aufbauten, die immerhin bis zu 15 Meter Höhe (ohne die weit darüber hinausragenden Schornsteine) erreichen konnten. Leicht und damit zerbrechlich mussten die Schiffe sein, weil bei möglichst geringem Tiefgang ein Maximum an Fracht befördert werden musste. Die Lösungen, die die Schiffbauer für die Stabilisierung der ‚Leichtbaurümpfe’ entwickelten, die neben der Ladung ja auch noch die schwere Dampfmaschine mit dem benötigten Kohlevorrat und die gewaltigen Schaufelräder tragen mussten, waren teilweise recht abenteuerlich. Unter die Rubrik ‚Wirtschaftlichkeit’ fallen natürlich ebenfalls die Aspekte der Entwicklung der Dampfmaschinen, der natürlichen Rahmenbedingungen, der speziellen Anforderungen der Navigation auf wilden Flüssen und Unfälle und Verluste.
Mississippidampfer und die Cholera
Das Dampfschiff als Unternehmen behandelt der zweite Teil des Buches. Hier stellt Hunter nicht nur die sich im Laufe der Zeit verändernden ‚Geschäftsmodelle’ und Geschäftsfelder (grob in Fracht und Personenbeförderung unterteilt) dar, sondern geht auch hier ins Detail, wenn er beispielsweise über Investitionen, Gewinne oder Auftragsacquise informiert.
Als Ökonom der alten Schule vergisst der 1898 geborene Louis C. Hunter auch die Betrachtung der Menschen nicht. Und so erfährt der Leser über die verschiedenen Passagierkategorien mit ihrer Unterteilung in Kabinen- und Deckpassagiere mit ihren unterschiedlichen Lebensbedingungen auf den Schiffen. Kein Zweifel, bequem war das Reisen selbst in der ‚Salonklasse’ nicht unbedingt. Bei den Deckpassagieren, die unter extremen hygienischen Bedingungen hausen mussten, breiteten sich immer wieder Epidemien aus. So verbreiteten die sagenhaften Flussdampfer nicht nur die Segnungen des technischen Fortschritts im wilden Westen, sondern ab und an beispielsweise auch die Cholera. Und natürlich vergisst Hunter auch nicht die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Hierarchien und Einkommen der Mannschaften und Offiziere zu untersuchen.
Weitere Literatur zur amerikanischen Dampfschifffahrt
Im dritten Teil der ‚Steamboats on the Western Rivers’ betrachtet Hunter Höhepunkt und Niedergang der Dampfschifffahrt im amerikanischen Westen. Hier spielen neben gesetzlichen Regelungen zur technischen Sicherheit, die Entwicklung von Monopolstrukturen und Regierungsgeschäften, der amerikanische Bürgerkrieg, die Entwicklung der kanadischen Nation und nicht zuletzt natürlich die zunehmende Konkurrenz der Eisenbahn eine wichtige Rolle.
Bei der Fülle an Information ist es geradezu zwangsläufig, dass das Buch nur ganz wenige Illustrationen enthält. Trotzdem ist es ohne entsprechende Risse und Grafiken für interessierte Laien gelegentlich nicht ganz leicht, sich die technischen Beschreibungen der Schiffskonstruktionen – gerade in ihrer Entwicklung - auch bildlich vorzustellen. Vor diesem Hintergrund macht es sicherlich Sinn, sich den ebenfalls im Dover-Verlag erschienenen Reprint von ‚Stanton’s American Steam Vessels’ mit Zeichnungen von mehr als 250 Schiffen der ersten 88 Jahre amerikanischer Dampfschifffahrt zuzulegen. William J. Petersens Buch ‚Steamboating on the upper Mississippi’ ist sicherlich ebenfalls eine interessante Ergänzung zum Thema. Wegen der räumlichen (oberer Mississippi) und zeitlichen (1823 – 1870) Beschränkung kann der Autor des 1937 erstmals publizierten und von Dover 1995 als Reprint herausgegebenen Werkes neben verhältnismäßig zahlreichen Illustrationen deutlich mehr historische Ereignisse und Persönlichkeiten ins Spiel bringen als Hunter.
Louis C. Hunter: Steamboats on the Western Rivers, an Economic and Technological History. Dover 1993. Taschenbuch, 684 Seiten.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen