Als „unpersönlichsten aller Staaten“ bezeichnet Roger Crowley die Seerepublik Venedig, die Jahrhunderte lang die Geschicke der christlich-islamischen Welt entscheidend mit beeinflusste.
Es war der vierte Kreuzzug, der Venedig zunächst an den Rand seiner Existenz brachte. Im Ergebnis aber wurde die gescheiterte christliche Mission zur Grundlage des Aufstiegs des Seehandelsimperiums. Es war ein lukrativer aber hochriskanter Deal, den der blinde Doge Enrico Dandolo 1201 mit den französischen Rittern aushandelte. Gegen ein Salär von 85.000 Mark erklärte sich Venedig bereit, für ein Kreuzfahrerheer von 34.000 Kriegern eine Flotte auszurüsten und diese einschließlich Mannschaften, eigener Soldaten, und Proviant der Mission zur Befreiung Jerusalems für ein Jahr zur Verfügung zu stellen. Soweit der offizielle Vertrag.
statt der Befreiung Jerusalems die Eroberung von Byzanz
Tatsächlich aber gab es, wie Crowley verrät, auch ein geheimes Abkommen, denn Venedig hatte bei dem Unterfangen ganz andere Ambitionen als die edlen Kreuzritter. Wenn man schon ein Heer zur Verfügung hat, so offensichtlich die Überlegung des greisen Dogen, dann kann das im Interesse Venedigs auf dem Weg nach Jerusalem auch noch schnell an der dalmatischen Küste aufräumen. Und der nur dem engsten Kreis der Geschäftspartner bekannte Plan, einen kleinen Umweg über das reiche Ägypten zu machen, um den muslimischen Heeren ihre Ressourcen abzuschneiden konnte dazu dienen, nebenbei die Vormachtstellung Genuas und Pisas im Ägyptenhandel zugunsten Venedigs zu brechen. Die Expedition sollte schließlich weder Ägypten noch das Heilige Land erreichen. Stattdessen eroberte das Kreuzfahrerheer unter geschickter Führung des greisen Dogen Byzanz und legte damit den Grundstein für den Untergang des ohnehin maroden oströmischen Reiches. Gleichzeitig erbte der Handelsplatz Venedig bei der Aufteilung der „Beute“ 1204 ein maritimes Reich und wurde damit schlagartig zu einer Kolonialmacht, die von der Spitze der Adria bis zum Schwarzen Meer reichte und die gesamte Ägäis und das Kretische Meer umfasste.
Bis zum bitteren Ende, der Kampf zwischen Genua und Venedig
Crowley beschreibt nicht nur die kriegerischen und technischen Abläufe der Unterwerfung der dalmatinischen Küstenstädte und der Eroberung von Byzanz sehr detailliert. Als wenigstens ebenso interessant und spannend erweist sich die Darstellung der politischen Hintergründe, und Intrigen. Da war der vergebliche Versuch des Papstes durch Diplomatie und Exkommunikation des ganzen Heeres den Kampf gegen die christlichen Städte Dalmatiens und des ja ebenfalls christlichen Byzanz zu verhindern. Da waren die Falschinformationen und taktischen Verschleppungsaktionen des Dogen, um die kaufmännischen Interessen der Seerepublik durchzusetzen und nicht zuletzt die Unterstützung von byzantinischen Marionettenkaisern, um der ganz und gar unchristlichen Unternehmung einen Anschein von Legitimation zu verleihen.
Mit der byzantinischen Erbschaft war das skrupellose italienische Welthandelsunternehmen aber längst nicht am Ende seiner Ziele. Immer wieder wurde der Lagunenstadt, dem Zentrum des italienischen Staatshandelskonzerns seine Monopolstellung durch die Rivalen Genua und Pisa streitig gemacht. Und auch in dieser Auseinandersetzung spielten militärische, beziehungsweise maritime Stärke, Interessen der europäischen und asiatischen politischen Mächte und selbstverständlich Diplomatie und kaufmännisches Kalkül eine zentrale Rolle.
Die Venedig- AG
Mit dem Sieg über Genua begann ein neues Kapitel des venezianischen „Welthandels“, der nun vor allem durch Diplomatie geprägt war und auf kostspielige militärische Interessenvertretung weitestgehend verzichtete. Diese Phase nutzt Crowley, um näher auf die inneren gesellschaftlichen und organisatorischen Strukturen einzugehen. Dabei offenbart der Autor seinen Lesern ein für mittelalterlich-frühneuzeitliche Verhältnisse geradezu futuristisches Gesellschaftskonzept, das die Seerepublik, den nach Crowley „unpersönlichsten aller Staaten“ als Fremdkörper in der damaligen feudalen Welt präsentiert. Wenn Crowley einen tiefen Blick in das Arsenal Venedigs mit seiner industriell und arbeitsteilig organisierten Schiffsbau- und Ausrüstungsmaschinerie wirft, wenn er die hocheffizienten, zentralisierten staatlichen Verwaltungsstrukturen durchleuchtet, wenn er das Rechts- oder Antikorruptionssystem beschreibt oder die repräsentativen Aktivitäten vorstellt, dann fallen dem Leser Begriffe wie Fließbandproduktion, Controlling, Rechnungswesen, Corporate Identity und vor allem Staatskonzern ein. Die ganze venezianische Gesellschaft präsentiert sich dem Betrachter als ein einziges, zentral gesteuertes Welthandelsunternehmen.
Venedig erobert die Welt, spannend und aufschlussreich
Auch wenn Crowelys „Venedig erobert die Welt“ stilistisch und strukturell nicht ganz an sein Buch „Entscheidung im Mittelmeer“ heranreicht, inhaltlich ist es wieder einmal sehr gelungen. Crowley hat bei diesem Buch – wie der Titel verspricht - den Focus nahezu ganz auf die faszinierende Seerepublik gerichtet. Dass dabei die anderen wichtigen historischen Prozesse und Mächte der Jahrhunderte venezianischen Aufstiegs und Untergangs an den Rand der Betrachtungen geraten, liegt in der Natur der Sache. Am Ende hat man vor allem bei „Venedig erobert die Welt“ das Gefühl, dass jedes seiner Bücher einen weiteren Mosaikstein eines geplanten Gesamtwerkes zur mittelalterlich-neuzeitlichen Geschichte des Mittelmeerraumes darstellt.
Roger Crowley: Venedig erobert die Welt. Die Dogen-Republik zwischen Macht und Intrige. Theiss 2011. Gebunden mit Schutzumschlag, 356 Seiten.
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