Frühjahr 1884: Der Auswandererdampfer Galileo legt mit 1800 Menschen an Bord in Genua ab, um neben einigen wohlhabenden Italienern, Schweizern, Österreichern und Franzosen rund 1600 italienische Bauern und Tagelöhner nach Amerika zu transportieren. Mit an Bord der Schriftsteller Edmondo de Amicis, der dem Leser mit seinem Bordbuch „Auf dem Meer“ (Original: Sull' Oceano, 1889) einen Einblick in die Hintergründe und Bedingungen der gewaltigen Migrationsbewegungen des 19. Jahrhunderts verschafft.
Die
Gesellschaft der ersten Klasse
Bei der
Beschreibung der beobachteten Charaktere erfährt der Leser einiges über die
historischen und sozialen Hintergründe der italienischen Migrationsbewegung des
19. Jahrhunderts. Da finden sich unter anderem der geschäftstüchtige Priester,
der Kapitän mit der scheinbar unerschütterlichen Moral, der Börsenmakler, der
sich als unermüdliche Quelle neuesten Gesellschaftsklatsches profilierte und nicht
zuletzt der Auswanderungskommissar, der mit verblüffender Gelassenheit seiner komplizierten
Aufgabe als Friedensrichter für die Masse der elenden, zusammengepferchten
Passagiere nachkam.
Geordnete
Flucht über das Meer
Bereits bei
der Einschiffung der Emigranten zeichnet de Amicis ein plastisches Bild des
Elends der Menschen, die aufgrund ihrer Not im eigenen Land ihre letzte Hoffnung
in ein neues Leben in Südamerika setzten. Es war eine Flucht aus tiefster Not
und Perspektivlosigkeit heraus, eine gewaltige Migrationsbewegung, die Ihre
Ursachen in den revolutionären gesellschaftlichen Umbrüchen des 19.
Jahrhunderts, den tiefen Gräben zwischen den Klassen, der Skrupellosigkeit und
Gier der Herrschenden und Vermögenden, der Korruption und nicht zuletzt der
politischen Unfähigkeit der Mächtigen resultierte. Nicht zufällig dürfte sich
also auch der verschlossene Anhänger des italienisch-südamerikanischen Nationalrevolutionärs
Garibaldi unter den Passagieren gefunden haben. Und dass mit den willigen
Arbeitskräften auch Glücksritter und politische Agitatoren unter den Auswanderern
zu finden waren, versteht sich von selbst.
Ein Spiegel
der Welt
Für 20 Tage findet
sich auf der Galileo eigener gesellschaftlicher Kosmos, losgelöst vom Rest der
Welt und dennoch ein Spiegel derselben. Da gibt es Liebesaffären, Verstöße
gegen die moralischen Grundlagen jener Zeit, Rührendes und abstoßend Menschliches,
Gewalttätigkeiten, Tod und Geburten, alles von de Amicis lebendig und Bildhaft
erfasst. Unterstützt von dem buckligen Aufseher des Frauenschlafsaales bekommt
de Amicis sogar dort einen Einblick. Denn jeden Abend werden die Frauen aus
sittlichen Gründen in ihren Schlafsaal getrieben – eine Aufgabe, die dem
Buckligen obliegt, der zudem auch noch für Ruhe, Ordnung und Sauberkeit in der
Massenunterkunft der weiblichen Passagiere zu sorgen hat.
Eine
Migrationsbewegung unvorstellbaren Ausmaßes
Trotz aller
Diskriminierungen, aller sozialen Gräben, der Enge und des Elends, handelte es
sich um eine gut organsierte, geordnete Migrationsbewegung, die mit den
heutigen Erscheinungen nicht ansatzweise zu vergleichen sind. Immerhin
verließen zwischen 1876 und 1915 allein etwa 14 Millionen Italiener ihre Heimat
und wanderten vor allem nach Argentinien, Brasilien und in die USA aus. Viele
Millionen Deutsche, Irländer, Skandinavier oder Spanier suchten ebenfalls ihr
Heil in der Flucht über den Ozean, um dort Lohn und Brot, Toleranz und Freiheit
zu suchen und ihre Chance zu bekommen. Und so kommt trotz aller
Unvergleichlichkeit der Hintergründe und Rahmenbedingungen der Schriftsteller Erri
de Luca in seinem Nachwort zu „Auf dem Meer“ nicht ganz zu Unrecht zu der
Aussage: „Für jeden Emigranten, der heute in Lampedusa ankommt, wären es
phantastische Bedingungen: eine reguläre Fahrkarte, ein Pass, Verpflegung du ein
Schlafplatz, ein sicheres, modernes Schiff und schließlich bei der Ankunft
keiner, der ihn vertreibt oder einsperrt.“
Technische
Revolution
Apropos
modernes Schiff: Auch zu diesem Thema findet sich ein Kapitel in de Amicis Bordbuch.
Der Schriftsteller ist nämlich auch in die Tiefen des Schiffsbauches gestiegen
und hatte voller Ehrfurcht die mächtige Dampfmaschine besichtigt, die immerhin
rund ein Drittel des Schiffsrumpfes in Anspruch nahm. Die eindrucksvolle Schilderung
dieses Erlebnisses erinnert an die phantastischen Technikwelten von Jules Verne
und macht deutlich, dass die hochmodernen Auswanderungsdampfer der damaligen Zeit
noch kaum etwas mit den Passagierschiffen des 20. Jahrhunderts gemeinsam
hatten.
Die Lektüre
des Buches führt am Ende dazu, dass sich der aufmerksame Leser unwillkürlich
Gedanken auch über den Autor macht. Der entwickelt nämlich im Laufe der Reise
eine gewisse Distanz zu seinen erste Klasse- Mitreisenden und trotz der
gesellschaftlichen Kluft und gewissen Aggressionen der Auswanderer gegenüber
den feinen Herrschaften eine emotionale Nähe zu den Menschen der dritten
Klasse. Tatsächlich ist die Beschäftigung mit seiner Biografie auch für die Einordnung
seiner Bordbuchausführungen und die historischen Hintergründe der italienischen
Migrationsbewegung empfehlenswert.
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