Mittwoch, 17. Februar 2016

Auf dem Meer

Edmondo de Amicis Reise auf einem Auswandererschiff

Frühjahr 1884: Der Auswandererdampfer Galileo legt mit 1800 Menschen an Bord in Genua ab, um neben einigen wohlhabenden Italienern, Schweizern, Österreichern und Franzosen rund 1600 italienische Bauern und Tagelöhner nach Amerika zu transportieren. Mit an Bord der Schriftsteller Edmondo de Amicis, der dem Leser mit seinem Bordbuch „Auf dem Meer“ (Original: Sull' Oceano, 1889) einen Einblick in die Hintergründe und Bedingungen der gewaltigen Migrationsbewegungen des 19. Jahrhunderts verschafft.
Amerika, das sind in diesem Fall Argentinien und Uruguay. Und so dampft das Schiff 20 Tage lang durch raue See, die windstillen Rossbreiten, die Kalmen, Äquatorhitze oder tropische Wirbelstürme und verlangt vor allem den Menschen der dritten Klasse das Äußerste ab. Denn die haben auf dem Schiff etwa ebenso viel Platz zur Verfügung wie die Herrschaften der ersten und zweiten Klasse. Einen persönlichen Zugang zu den Menschen der dritten Klasse hat de Amicis nicht. Wohl aber zu seinen Mitreisenden in der ersten Klasse und der Schiffsführung. Von letzterer sammelt er einerseits Informationen über die in den nach Geschlechtern getrennten Schlafsälen zusammengepferchten Auswanderer, andererseits entpuppt er sich als unermüdlicher Beobachter auch seiner erste Klasse-KollegInnen.

Die Gesellschaft der ersten Klasse

Bei der Beschreibung der beobachteten Charaktere erfährt der Leser einiges über die historischen und sozialen Hintergründe der italienischen Migrationsbewegung des 19. Jahrhunderts. Da finden sich unter anderem der geschäftstüchtige Priester, der Kapitän mit der scheinbar unerschütterlichen Moral, der Börsenmakler, der sich als unermüdliche Quelle neuesten Gesellschaftsklatsches profilierte und nicht zuletzt der Auswanderungskommissar, der mit verblüffender Gelassenheit seiner komplizierten Aufgabe als Friedensrichter für die Masse der elenden, zusammengepferchten Passagiere nachkam.

Geordnete Flucht über das Meer

Bereits bei der Einschiffung der Emigranten zeichnet de Amicis ein plastisches Bild des Elends der Menschen, die aufgrund ihrer Not im eigenen Land ihre letzte Hoffnung in ein neues Leben in Südamerika setzten. Es war eine Flucht aus tiefster Not und Perspektivlosigkeit heraus, eine gewaltige Migrationsbewegung, die Ihre Ursachen in den revolutionären gesellschaftlichen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts, den tiefen Gräben zwischen den Klassen, der Skrupellosigkeit und Gier der Herrschenden und Vermögenden, der Korruption und nicht zuletzt der politischen Unfähigkeit der Mächtigen resultierte. Nicht zufällig dürfte sich also auch der verschlossene Anhänger des italienisch-südamerikanischen Nationalrevolutionärs Garibaldi unter den Passagieren gefunden haben. Und dass mit den willigen Arbeitskräften auch Glücksritter und politische Agitatoren unter den Auswanderern zu finden waren, versteht sich von selbst.

Ein Spiegel der Welt

Für 20 Tage findet sich auf der Galileo eigener gesellschaftlicher Kosmos, losgelöst vom Rest der Welt und dennoch ein Spiegel derselben. Da gibt es Liebesaffären, Verstöße gegen die moralischen Grundlagen jener Zeit, Rührendes und abstoßend Menschliches, Gewalttätigkeiten, Tod und Geburten, alles von de Amicis lebendig und Bildhaft erfasst. Unterstützt von dem buckligen Aufseher des Frauenschlafsaales bekommt de Amicis sogar dort einen Einblick. Denn jeden Abend werden die Frauen aus sittlichen Gründen in ihren Schlafsaal getrieben – eine Aufgabe, die dem Buckligen obliegt, der zudem auch noch für Ruhe, Ordnung und Sauberkeit in der Massenunterkunft der weiblichen Passagiere zu sorgen hat.

Eine Migrationsbewegung unvorstellbaren Ausmaßes

Trotz aller Diskriminierungen, aller sozialen Gräben, der Enge und des Elends, handelte es sich um eine gut organsierte, geordnete Migrationsbewegung, die mit den heutigen Erscheinungen nicht ansatzweise zu vergleichen sind. Immerhin verließen zwischen 1876 und 1915 allein etwa 14 Millionen Italiener ihre Heimat und wanderten vor allem nach Argentinien, Brasilien und in die USA aus. Viele Millionen Deutsche, Irländer, Skandinavier oder Spanier suchten ebenfalls ihr Heil in der Flucht über den Ozean, um dort Lohn und Brot, Toleranz und Freiheit zu suchen und ihre Chance zu bekommen. Und so kommt trotz aller Unvergleichlichkeit der Hintergründe und Rahmenbedingungen der Schriftsteller Erri de Luca in seinem Nachwort zu „Auf dem Meer“ nicht ganz zu Unrecht zu der Aussage: „Für jeden Emigranten, der heute in Lampedusa ankommt, wären es phantastische Bedingungen: eine reguläre Fahrkarte, ein Pass, Verpflegung du ein Schlafplatz, ein sicheres, modernes Schiff und schließlich bei der Ankunft keiner, der ihn vertreibt oder einsperrt.“


Technische Revolution

Apropos modernes Schiff: Auch zu diesem Thema findet sich ein Kapitel in de Amicis Bordbuch. Der Schriftsteller ist nämlich auch in die Tiefen des Schiffsbauches gestiegen und hatte voller Ehrfurcht die mächtige Dampfmaschine besichtigt, die immerhin rund ein Drittel des Schiffsrumpfes in Anspruch nahm. Die eindrucksvolle Schilderung dieses Erlebnisses erinnert an die phantastischen Technikwelten von Jules Verne und macht deutlich, dass die hochmodernen Auswanderungsdampfer der damaligen Zeit noch kaum etwas mit den Passagierschiffen des 20. Jahrhunderts gemeinsam hatten.
Die Lektüre des Buches führt am Ende dazu, dass sich der aufmerksame Leser unwillkürlich Gedanken auch über den Autor macht. Der entwickelt nämlich im Laufe der Reise eine gewisse Distanz zu seinen erste Klasse- Mitreisenden und trotz der gesellschaftlichen Kluft und gewissen Aggressionen der Auswanderer gegenüber den feinen Herrschaften eine emotionale Nähe zu den Menschen der dritten Klasse. Tatsächlich ist die Beschäftigung mit seiner Biografie auch für die Einordnung seiner Bordbuchausführungen und die historischen Hintergründe der italienischen Migrationsbewegung empfehlenswert.

Edmondo de Amicis: Auf dem Meer. Corso 2015. Gebunden, Leinen, 173 Seiten.

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