Samstag, 4. April 2015

Die Sozialgeschichte der englischen Seeleute 1485-1649

The Social History of English Seamen 1485 – 1649 ist ein englischsprachiges Buch, das einen Überblick über die neuesten Erkenntnisse zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen der englischen Seeleute sowie ihre Einbindung in die Gesellschaft des 16. Und 17. Jahrhunderts liefert.


Üblicherweise beschäftigen sich die Schifffahrtshistoriker mit den großen Seefahrern, den Nelsons und Drakes. In den letzten Jahrzehnten sind aber auch die weniger bekannten Kommandanten und ihre Mannschaften, die sich auf Entdeckungs-, Handels- und Beutefahrten begeben haben in den Blickpunkt der Forschung geraten. Dazu beigetragen haben sicherlich auch die Erkenntnisse, die die moderne Archäologie aus den Relikten des Tudorschiffes Mary Rose gewonnen hat. Während sich die Publikationen zum Thema Seefahrer und Seeleute bislang noch immer vor allem auf die mit schriftlichen Quellen relativ gut ausgestattete Schifffahrt des 18. Und 19. Jahrhunderts konzentrieren, ist mit „The Social History of English Seamen 1485 – 1649“ in diesem Jahr ein inhaltlich zweifellos interessantes Buch erschienen.

Der letzte Wille der Matrosen ist eine historische Quelle

Seeleute kommen als solche in den schriftlichen Quellen jener Zeit bestenfalls in den Büchern der Kaufleute und in den Mannschaftslisten von Handels- und Kriegsschiffen vor. Schließlich sind sie mit ihren Löhnen Kostenfaktoren. Mannschafts- und Lohnlisten geben immerhin in gewissem Maße Auskunft über die Qualifikationen der Seeleute, die Zusammensetzung der Mannschaft, über ihr Leben, ihre Karriere, ihre soziale Organisation an Bord und an Land jedoch kaum.
Wissenschaftler wie die Herausgeberin und Autorin Cheryl A. Fury haben als erstaunlich aufschlussreiche Quelle sozialer Forschungen über diese Zeit unter anderem die Testamente der Seeleute untersucht. Gerade bei längeren und damit außerordentlich gefährlichen Seereisen war es auch für den einfachen Seemann üblich, sein Testament zu machen. Die Sterblichkeitsrate gerade auf den in diesem Buch überwiegend untersuchten Überseereisen war beträchtlich. Auf den ersten Blick erstaunlich dabei: Auch die einfachen Seeleute hatten etwas zu vererben und sei es ihr Anspruch auf die ausgehandelte Heuer.
Während sich in den Köpfen späterer Zeiten das Bild des typischen Seemanns als ungebildeten, rauflustigen, seine Heuer im Hafen auf den Kopf schlagenden Saufbold verfestigt hat, vermitteln die Autoren der „English Seamen“ eine sehr viel differenziertere Sichtweise

Die Seeleute waren Freiberufler in einer Ständegesellschaft

Keine Frage, den randalierenden „drunken sailor“, gab es natürlich auch. Aber nicht wenige einfache Seeleute setzten ihren Namen unter das von Kollegen beglaubigte Testament, ein klares Zeichen für Bildung. Je nach Umständen und Qualifikation ließen sich auch mehr als Hungerlöhne als Heuer aushandeln und so mancher Matrose brachte gar sein eigenes Mobiliar mit auf das Schiff. Ein gewisser Eigenhandel der Besatzungsmitglieder war in der Seefahrt des 16./17. Jahrhunderts durchaus üblich. Vor allem aber galt für viele Seeleute, dass sie ihre Arbeitsstellen des Öfteren wechselten, sei es von Schiff zu Schiff, von Handelsschiff zu Privateer (Kaperer) oder gar Piratenschiff, sei es von Schiffs- zu Landjobs oder umgekehrt. Es gab Berufs- und Gelegenheitsseeleute, es gab ewige Junggesellen oder familiär an Land verwurzelte Matrosen.
Einer der sicherlich faszinierendsten Aspekte der Sozialgeschichte der englischen Seemannschaft jener Zeit ist – wie die Autoren des Buches Stück für Stück herausarbeiten - die hohe soziale Flexibilität dieses Teils der Gesellschaft. In einer Zeit, in der die landgestützte Wirtschaft noch weitgehend hierarchisch-zunftmäßig reguliert war, waren die Seeleute jener Zeit in der Regel Freiberufler, die – zumindest idealtypisch – die freie Verfügung über ihre Arbeitskraft hatten und diese in eigener Verantwortung vermarkteten.

Die Männer der Mary Rose sind archäologische Zeitzeugen

Wer gewohnt ist, seine Fähigkeiten bestmöglich zu vermarkten, musste als gemeiner Seemann die Navy vor allem in Kriegszeiten meiden. Hier setzten Krone und Admiralität die Löhne fest. Hier war nicht immer sicher, dass diese auch gezahlt würden. Und mit der formalen Freiheit des Seemanns, selbst zu entscheiden, welche Reise er mitmacht, welches Risiko er einzugehen bereit war, ob er gerade überhaupt zur See fahren oder einen Landjob annehmen wollte, war es angesichts des Pressens von Mannschaften – einer Art geregelter Zwangsrekrutierung – in der Navy ohnehin vorbei.
Den Untersuchungen an den Skeletten der 1544 gesunkenen und 1982 „Mary Rose“ – dem Flaggschiff Heinrich VIII. -, ist in „English Seamen“ unter dem Titel „The Men of the Mary Rose“ ein eigenes Kapitel gewidmet. Hier konnten über Struktur und Lage der sterblichen Überreste der mit dem Schiff untergegangenen Mannschaft einzelne Funktionen an Bord ausgemacht werden. So etwa die legendären englischen Langbogenschützen, die sich durch die einseitig ausgeprägte Schulterpartie des Zugarmes auszeichneten. Oder die Geschützmannschaften mit gleichmäßig kräftiger Statur.

Die Sozialgeschichte der englischen Seeleute des 16. und 17. Jahrhunderts ist eine Geschichte des Wandels

Die Schlussfolgerungen die sich aus den Relikten der Mary Rose, den Testamenten und anderen untersuchten Quellen über die Sozialgeschichte der englischen Seeleute des 16. und 17. Jahrhunderts ergeben, räumen mit dem Klischee vom ungebildeten und nahezu rechtlosen Seemann, der sein ganzes Leben zur See verbringt, und nur als bettelnder Krüppel an Land zurückkehren kann, gründlich auf. Nicht zuletzt deshalb, weil die Autoren - allesamt ausgewiesene Fachleute auf ihrem Gebiet – die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven betrachten. So wird das Leben der Seeleute nicht nur unter wirtschaftlichen oder technischen Gesichtspunkten betrachtet. Themen wie „The Religious Shipboard Culture of Sixteenth and Seventeenth-Century English Sailors“ oder „The Relief of English Disabled Ex-Sailors, c. 1590-1680” und “Seamen’s Wives and Widows” gehören ebenfalls dazu.
Und das letzte Kapitel “Jacobean Piracy: English Maritime Depredation in Transition, 1603-1625” steht im Grunde nicht nur für die maritimen Plünderfahrten und ihre sozialen Hintergründe, sondern für den Wandel der englischen – und übrigens insgesamt europäischen – Seefahrt generell. Der in diesem Buch betrachtete Zeitraum umfasst den Übergang vom Mittelalterin die FrüheNeuzeit, in dem nicht zufällig auch die Grundlagen für den konservativen Charakter der Marine bei gleichzeitiger Innovationsfähigkeit gelegt worden war.
Die etwas sperrigen Kapitelüberschriften sagen auch etwas über den Charakter des Buches aus: Es ist wissenschaftliche Lektüre. Dennoch lässt es sich recht passabel lesen und stellt unter anderem mit seiner 40-seitigen Bibliografie eine wahre Quellenfundgrube auch historischer Publikationen dar.

Cheryl A. Fury: The Social History of English Seamen 1485-1649. Boydell Press 2012. Gebunden, 350 Seiten.

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