Mittwoch, 12. April 2017

The Saltwater Frontier

Die Indianer und der Kampf um die amerikanische Küste

Mit dem Begriff Frontier verbinden die Amerikaner den Mythos des vermeintlich heldenhaften Kampfes der europäischen Siedler gegen die Wildnis im Westen, der erst zu Ende war, als die Weißen die Westküste des amerikanischen Kontinents erreicht, und die indigene Bevölkerung durch Massaker, Zerstörung der Lebensgrundlage und Ethnozid dezimiert, deportiert und in Reservate gesperrt hatten. Ausgerechnet dort, wo die Westeroberung mit furchtbaren Massakern an den Nationen der First People ihren Ausgangspunkt nahm, findet sich heute jedoch die dichteteste Konzentration an Indianerreservaten der Ostküste. Der amerikanische Historiker Andrew Lipman erklärt in seinem ersten Buch „The Saltwater Frontier“ warum das erste Jahrhundert der Kolonialisierung so gewalttätig war und weshalb es einigen indigenen Völkern gelungen war, die Schlacht um den Kontinent nicht nur zu überleben, sondern sich sogar über die Jahrhunderte in ihren angestammten Gebieten zu halten. Dazu, so stellt er fest, müsse man den Blick einfach statt nach Westen aufs Land, nach Osten auf die Gewässer der Atlantikküste richten, die erste Frontier, die die europäischen Invasoren zu überwinden hatten.

Die erste Begegnung zwischen den indigenen Völkern Amerikas und den Europäern fand auf dem Wasser statt. Vor allem an der von der Eiszeit geformten zerklüfteten und inselreichen Küste zwischen dem Hudsonriver und Boston stießen die Holländer und Engländer auf indigene Nationen wie die Naragansett, Pequot, Mohegan, Wampanoag und andere mehr, zu deren Lebensraum die Küstengewässer gehörten. Sie lebten vom Fischfang, Walfang und nutzten die See und die Flüsse mit ihren Rindenkanus und großen Einbäumen als Verkehrs- und Transportwege. Mit großen Flotten riesiger Einbäume, begrüßten die Einwohner Amerikas die Schiffe der Europäischen Neuankömmlinge bereits, bevor diese auch nur einen Schritt an Land setzten. Immerhin, die Wasserfahrzeuge der Indianer konnten nicht nur gepaddelt, sondern, wenn auch eingeschränkt, sogar gesegelt werden und, wie der Autor feststellt, hatten die größten ihrer Boote eine längere Wasserlinie und fassten weit mehr Personen, als die kleinsten europäischen Schiffe, die den Atlantik zu überquerten in der Lage waren. Keine Frage, die schwimmenden Festungen der Europäer waren denen der Amerikaner technologisch weit überlegen. Diese Überlegenheit wurde jedoch durch die Bedingungen in den Küstengewässern faktisch zunichte gemacht.

Komplexe transatlantische Geschichte

Und so waren die an der Küste und den Flussläufen verstreuten holländischen und englischen Siedler nicht nur auf die Lotsen- und Botendienste der indigenen Bevölkerung angewiesen, sondern auch auf deren Einbäume und Rindenboote, wollten sie untereinander Austausch und Verbindung halten. Ungeachtet der Vernichtung und Verdrängung der indigenen Bevölkerung mit dem Fortschreiten der westlichen Frontier in den folgenden Jahrhunderten bot der atlantische Raum Mitgliedern der seefahrenden First People gewisse Überlebensmöglichkeiten. So lernten Indianer schnell den Umgang mit europäischen Schiffen und spielten eine große Rolle im amerikanischen Fisch- und vor allem Walfang. Und in einem allerdings zynischen Sinne hatten die Küstenindianer bereits sehr früh auch Anteil an den transatlantischen Verbindungen. Schließlich gehörte es vor allem zur englischen Kolonialisierungspolitik Mitglieder der indigenen Bevölkerung schlichtweg nach Europa zu entführen, damit diese dort die Sprache und Kultur kennenlernen und bei ihrer Rückführung als Vermittler und Dolmetscher eingesetzt werden konnten. Entgegen der üblichen historischen Betrachtung waren die Ereignisse in den niederländischen und englischen Kolonien und den indianischen Stammesgebieten keine voneinander isolierten Geschichten. So veränderten sich nicht nur die jeweiligen Grenzen zwischen den europäischen Kolonien und den Stammesgebieten ständig, es gab auch eine vielschichtige personelle Fluktuation. So bildeten die Kriege, Handelsverträge, Bündnisse oder politische Konstellationen ein enges Geflecht zwischen Holländern, Engländern und indigenen Machthabern. Letztere spielten in der Kolonialgeschichte eine durchaus aktive Rolle.

Macht, Geld und Traditionen

Dieses Geflecht von kulturellen, Interessen, Strategien, gesellschaftlichen Organisationsformen, Machtstrukturen und Technologien, versteht Lipman auf spannende Art zu präsentieren. Dabei bedient er sich der Zitate zahlreicher zeitgenössischer Briefe, Dokumente, Notizen, die er in seinen Text einflicht. Keine Frage, der Gegenstand und die Art der Betrachtung sind außerordentlich komplex und entgegen vielen anderen Historikern drückt sich Lipman um diese Tatsache auch nicht herum. Und lernt der Leser mehr als in den meisten andern Büchern zum Thema vieles über die Kultur der indigenen Bevölkerung aber auch die Denkweise und die Realitäten der europäischen Eroberer. Als Beispiel sei hier der Wampum genannt, jener von den Indianern der betrachteten Region hergestellten Perlengürtel aus Muschelschalen, der von den holländischen Kolonisten zu einer Art Währung entwickelt wurde. Eng damit in Zusammenhang stand die Art, wie indigene Gesellschaften funktionierten, wie Macht generiert wurde und wie Entscheidungen und Bündnisse zustande kamen. Prozesse, die bei den Europäern ebenso unverstanden blieben wie die indigenen Sprachen und ihre Dialekte.

Maritime History at its best

Lipman betrachtet in seinen Ausführungen zunächst die verschiedenen „Parteien“ isoliert und fügt die daraus entwickelten Erkenntnisse zu dem besagten und nunmehr nachvollziehbaren Geflecht zusammen, das letztendlich die Ergebnisse, die Geschichte der friedlichen und gewaltsamen interkulturellen Kommunikation ausmacht. Als Beispiel sei hier das Kapitel 2 „Watercraft und Watermen“ genannt. Nach einer Einführung unterwirft der Autor die europäischen Wasserfahrzeuge und ihre Anpassung an die örtlichen Gegebenheiten einer genaueren Betrachtung. Es folgt die Darstellung der indianischen Boote und ihrer Nutzung, um anschließend zunächst das Verhältnis, die Nutzung und die Adaption der indigenen „Marine“ durch die Europäer  und dann die Rolle der Indianer im Rahmen der europäisch geprägten Seefahrt zu untersuchen. Damit ist die Grundlage für das Verständnis des folgende Kapitels „The Landless Borderland 1600 – 1633“ gelegt, das die komplexen Beziehungen zwischen den Holländern, Engländern und indigenen Völkern der Küste darstellt.

Long Island und die indianische See

Und wieder schafft dieses Kapitel die Verständnisgrundlagen für die Entstehung und Entwicklung der beiden zentralen inhaltlich und personell zusammenhängenden Indianerkriege, dem Pequot- Krieg und dem Philip-Krieg, die im Kapitel „Blood in the Water. 1634-1646“ behandelt werden. Tatsächlich handelte es sich um mehrere Konflikte zwischen den indigenen Nationen, angezettelt und/oder unterstützt von den konkurrierenden Kolonien. Amphibische Aktionen waren dabei von zentraler Bedeutung, die Gewässer von Cape Code bis zum Hudson und um Long Island durften nach Aussagen von Zeitgenossen immer noch als indianische Gewässer betrachtet werden. Mit den englisch- holländischen Kriegen und der Aufgabe Nieuw Amsterdams entwickelten die englischen Kolonien nun eine besondere, expansive Dynamik. Die sichtbare Dominanz der indigenen Bevölkerung in den Gewässern um Long Island und der amerikanischen Ostküste verschwand, die Präsenz und der Einfluss indigener Seeleute blieb beim Walfang bis zu dessen Ende und in der Fischerei bis heute jedoch bestehen.

Gewinner des Bancroft Preises 2016

Ein hervorragendes Buch, mit neuen Blickwinkeln, tiefen Einblicken in die indigenen Kulturen, interessanten Portraits indigener Akteure und neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Zudem ist es, wenn man sich als nicht Muttersprachler an die antiquierten Formulierungen und Schreibweisen der zahlreichen Zitate gewöhnt hat, spannend und unterhaltsam zu lesen. Für jene, die sich schon immer für die Geschichte der indigenen amerikanischen Seefahrt interessiert haben, ist das Buch auch in dieser Hinsicht ein Muss, für jene, die noch gar nicht wussten, dass es sie gab, erst recht. Völlig zu Recht ist Lipman der Gewinner des renommierten Bancroft-Preises 2016.

An excellent publication, with new points of view, in-deep looks into the native cultures, interesting portraits of indigene players and latest level of scientific knowledge. Moreover ist is exiting and enjoyable to read. For those who all along were interested in the maritime history of the indigene american people ist a must. For those who didnt even knew that something like that ever existed its a must all the more.

Andrew Lipman: The Saltwater Frontier. Indians and the Contest fort he American Coast. Yale University Press 2015. Taschenbuch 339 Seiten.

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