Samstag, 23. Mai 2015

Daniel Defoes Kapitän Singleton



Mit zwei Jahren an eine „Zigeunerin“ verkauft, mit sechs Jahren nach dem Ableben (Galgen) seiner Ziehmutter von der kirchlichen Fürsorge in den Gemeinden herumgereicht und schließlich im Alter von 11 Jahren von einem Kapitän adoptiert, fuhr Bob Singleton bereits als Zwölfjähriger zur See. Seine Karriere als Abenteurer und Pirat schien geradezu zwangsläufig. Denn Sklaverei, Meuterei und Betrug prägten schon die verlorene Kindheit des Protagonisten von Daniel Defoes 1720 unter dem Titel „The Life, Adventures and Piracies of the Famous Captain Singleton“ erstmals veröffentlichten Roman „Kapitän Singleton“.


Defoe, der den Roman ganz im Stile der damals üblichen Reiseberichte realer Personen verfasste, war selbst Teil der Welt, die er dem Leser mit der Geschichte des fiktiven Käptn Bob nahebringt. Es ist die Welt der kaufmännischen Abenteurer mit ihrer auf Raub, Ausbeutung und Handel basierenden Kapitalakkumulation des 17. Jahrhunderts, die mithin Grundlage des Industriekapitalismus im 18./19. Jahrhundert war. Nicht alle Piraten des 17. Jahrhunderts hatten eine Vita, die der des heimatlosen und ungebildeten Waisen Bob Singleton glich. Piraterie war ein Geschäft, das der gebildete Kaufmann, ebenso betrieb, wie der soziale Underdog, der abenteuerlustige Adelige oder die Entdeckernatur. Dass sich Defoe für seinen Romanhelden einer Figur bedient, die durch schlechte Kindheit, schlechte Vorbilder und schlechte Gesellschaft letztendlich das Recht auf Skrupellosigkeit und Gefühllosigkeit in einer Welt voller Gier und Gewalt für sich in Anspruch nehmen darf, ist kein Zufall.

Menschen werden nach ihrem Nutzen bewertet

Denn trotz der ungünstigen charakterlichen Voraussetzungen denkt Singleton selbst nach der Meuterei, für die er vom Kapitän mit einer Gruppe Matrosen auf Madagaskar ausgesetzt wird, nicht in erster Linie an die Anhäufung von Reichtümern. Hierzu wird er von einem Engländer, auf den er durch Zufall bei seiner Durchquerung Afrikas stößt, geradezu gedrängt. Und so kehrt er schließlich mit einem Vermögen aus in afrikanischen Flüssen geschürften Goldes und den Gewinnen aus dem Verkauf von im Kontinent zusammengesammeltem und verkauftem Elfenbein nach England zurück. Noch ist Singleton kein richtiger Pirat, sondern eher ein Abenteurer, der niemandem ohne Grund etwas zu Leide tut, wenn man von der Versklavung von „Negern“ zum Zwecke des Transports und Goldschürfens absieht – nichts Ehrenrühriges in jener Zeit. Und selbstverständlich muss man sich in einem fremden Land gegen die Angriffe von Wilden wehren, wenn sie die dringend benötigten Lebensmittel nicht freiwillig zur Verfügung stellen. Immerhin, Singleton und seine Männer waren immer zum Handel mit den  Eingeborenen bereit, ob diese wollten oder nicht.

Reichtum durch Raub und Handel

Wie könnte es anders sein, wurde Singleton in England wiederum Opfer falscher Freunde und Betrüger. Er verlor sein gesamtes Vermögen, nicht ganz ohne sein eigenes Zutun, wie er eingestand. Und so war er wiederum gezwungen, in die Welt zu ziehen und dort sein Glück zu versuchen. Und er hatte gelernt, dass Reichtum das einzige ist, was zählt in dieser Welt, egal, wie er zustande gekommen ist. Singletons Karriere als professioneller Pirat begann. Bei seinen Raubzügen in der Karibik, den ostafrikanischen, indonesischen und indischen Gewässern verhielt sich Singleton in der Regel durchaus kaufmännisch rational. Nach dem Motto ‚möglichst wenig Risiko bei maximalen Gewinnaussichten‘, konzentrierte er sich auf Gegner, von denen wenig Widerstand, dafür aber leicht verwertbare Beute zu erwarten war. Dabei hatte er im listigen Quäker William, der als Gefangener zu Singleton an Bord gekommen war, einen wichtigen Freund und Berater, der ihn von mancher unnötigen Grausamkeit von unüberlegten und riskanten Aktionen abhielt und die geraubten Waren durch „ehrlichen“ Handel vermögenswirksam verwertete.

Zwischen Profit und Gewissen

Am Ende war es auch William, der Singleton zur Reue über seine Taten und zur Aufgabe seines gottlosen Piratenlebens brachte. In England schließlich heiratete Singleton Williams Schwester und alle drei führten dort ein reuevolles aber – wie Singleton betont - unverdient glückliches Leben. Mit „Kapitän Singleton“ und seinen bekannteren Werken wie „Robinson Crusoe“ gehört Daniel Defoe nicht nur zu den Gründern des bürgerlichen Romans sondern er hat mit ihnen auch die moralischen Widersprüche des aufstrebenden Bürgertums thematisiert. Im Nachwort des Buches beschreibt Günther Klotz diesen Aspekt von Daniel Defoes Schaffen folgendermaßen: „Es ging darum, wie der Widerspruch zwischen bürgerlichem Interesse und bürgerlicher Tugendvorstellung zu lösen und wo die Grenzen zwischen individuellem Glücksstreben und rücksichtsloser Übervorteilung der Konkurrenz zu finden sei.“ Und Defoe selbst schrieb in der Zeitschrift „Review“ im Jahre 1704: „Die Leute neigen sehr dazu, ihren Profit und ihr Gewissen miteinander in Einklang zu bringen.“

Ein Abenteuerroman mit kulturhistorischem Tiefgang

„Kapitän Singleton“ ist – da teilweise auch autobiographisch geprägt – neben einem spannenden Abenteuer- und Piratenroman ein Stück Ideologie- Literatur- und Kulturgeschichte. Möglicherweise sind diese Aspekt bedeutender als die Romangeschichte selbst. Stilistisch ist das Buch zweifellos gewöhnungsbedürftig, bedient sich Defoe doch der verhältnismäßig umständlichen Darstellung der Reiseberichte des 17. Jahrhunderts. In der Gesamtbewertung sicherlich eine lohnenswerte Lektüre. Das Nachwort von Günther Klotz an den Anfang zu stellen, würde der Motivation, sich mit dem für die heutige Zeit etwas schwer zu lesenden Stil anzufreunden, ebenso guttun, wie dem Verständnis des Dargestellten in seinem historischen Kontext.

Daniel Defoe: Kapitän Singleton. Unionsverlag 2014. Taschenbuch 364 Seiten.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen